Björn Blume - Wie die Transplantation mein Leben veränderte
1. Der Tag X
Es war der 22.5. 2007. Nachts gegen 2.15 Uhr klingelte mein Telefon. Ich dachte mir schon, dass das nur das TX-Büro sein kann. Wer sonst ruft um diese Zeit an? Und tatsächlich: "Herr Blume, wir haben ein Pankreas-Nieren-Angebot für Sie. Sind Sie soweit gesund?" - Diese sachlichen und nüchternen Worte machten mich zunächst sprachlos. Vorher hatte ich mir immer vorgestellt, wie es wohl sein wird, wenn der Anruf kommt. Aber in mir war plötzlich eine so große Leere. Gleichzeitig schossen mir so viele Gedanken so schnell durch den Kopf, dass ich sie nicht wahrnehmen konnte. Und es blieb ja auch keine Zeit für solche Dinge.
Die Tasche war gepackt, aber hatte ich auch an alles gedacht? Egal, ich wusste nicht mehr, was man mir vorher alles gesagt hatte. Plötzlich bekam ich Angst davor, nicht mehr wiederzukommen. Der Tod war ganz nah, dabei sollte ich doch ein neues Leben geschenkt bekommen! Grotesk, oder? Meine Eltern mussten das auch gespürt haben, ihnen standen die Tränen in den Augen, als wir uns verabschiedet haben. Ich sagte zwar meiner Mutter noch, sie solle nicht weinen, aber insgeheim musste auch ich schlucken. Nur sagen konnten wir alle nichts mehr.
Auf der Fahrt im Krankenwagen war ich dann völlig allein mit mir, doch denken konnte ich an nichts Konkretes. Es gab keine Freude und auch keine große Angst, nur Leere. Aber vielleicht empfindet jeder Betroffene anders. Es ist schon komisch, man kann es nur schwer beschreiben.
Auf der Intensivstation (ITS) angekommen, liefen dann die Vorbereitungen routinemäßig ab. Dann hieß es nur noch: Warten! Und erst da begriff ich, was geschehen war. Da erst hatte ich Zeit, mir klar zu werden, was passieren wird. Und trotzdem hatte ich noch keine konkreten Vorstellungen von dem Leben "danach". Auch die unendliche Dankbarkeit, das geschärfte Bewusstsein für ein geschenktes Leben und die Vorstellungen von Gott - all` die Dinge, die ich heute verinnerlicht habe, die sich mit der Zeit erst entwickelt haben und die nun zu mir gehören, waren in diesen Stunden des Wartens noch nicht vorhanden. Ich wusste nur, dass etwas Besonderes geschehen wird...
2. Krisensituationen und ihre Folgen
Ich möchte hier nur die Dinge berichten, die sich in meine Seele eingegraben und mich als Mensch geprägt haben. Im Einzelnen gesehen waren es scheinbar teilweise Kleinigkeiten oder Routineabläufe, die mir aber in der Summe so viel gegeben haben, dass sie für die Ewigkeit ganz tief in mir sind und mein Menschsein ausmachen.
Pfingstsonntag 2007
Meine Eltern waren gerade zu Besuch und erlebten das folgende Geschehen hautnah mit. Ich wurde von der ersten ITS auf die "normale" ITS verlegt. Schon bei der Aufnahme dort stellte die behandelnde Intensivmedizinerin fest, dass ich innere Blutungen haben müsste. Es bestand plötzlich akute Lebensgefahr! Mir war das (zum Glück!?) nicht bewusst. Natürlich fiel mir auf, wie hektisch plötzlich alles ablief und man mich wahnsinnig schnell zur Not-OP brachte. Dabei blieb diese Ärztin immer an meiner Seite und fragte mich laufend, wie es mir ginge.
Ich verstand das alles nicht und wunderte mich nur. Meinen Eltern sagte ich, dass ich in den OP müsste. Doch sie wussten schon, wie ernst es um mich stand. Wie ich hinterher erfuhr, hatte diese Ärztin ihnen gesagt, sie sei nicht sicher, ob sie mich je lebend wiedersehen würden und ob ich meine Organe behalten könnte. Sie sollten sich schon mal von mir verabschieden. Doch dafür blieb ihnen keine Zeit. Ich möchte den Lesern ersparen, was meine Eltern in diesen Stunden durchgemacht haben. Ich denke heute, dass auch dieses Ereignis sie manche Dinge im Leben anders bewerten lässt...
Im Februar 2008...
...hatte ich dann das starke Verlangen, diese Ärztin aufzusuchen, um ihr meine Gefühle der Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen. Ich wollte ihr nicht nur bloß das Wort "Danke" sagen, sondern ihr alles das mitteilen, was sich in mir erst durch ihre Lebensrettung an Gefühlen und Lebenseinstellungen geändert hat. Doch wie macht man das? Egal, ich wollte es unbedingt tun. Also ging ich hin. Mir zitterten die Knie, ich hatte feuchte Hände.
Da stand sie - meine Lebensretterin! Ich sagte nur: "Zu Ihnen wollte ich." Sie kam auf mich zu, wunderte sich, kannte mich natürlich auch nicht mehr. Ist ja logisch, wo sie doch so vielen Menschen hilft. Und was tat ich? Ich brachte kein Wort heraus, hatte ich es mir doch vorher ganz anders und viel einfacher vorgestellt. Ist es wirklich so schwer, "Danke" zu sagen? Aber ich wollte ja mehr, verdammt! Und jetzt kann ich nicht mal das Wesentliche sagen.
Ich sah ihr in die Augen, nein, das war nicht so, wie es bei Liebenden ist. Wahrscheinlich war es flüchtig und schnell, für Außenstehende sicherlich nicht zu verstehen. Mir schossen die Tränen in die Augen. Ich griff ihre Hand und drückte sie fest und kurz. Wahrscheinlich stammelte ich noch ein paar Brocken, aus denen ein Dankeschön abzuleiten war. Ich konnte ihr nicht mehr in die Augen sehen. Stattdessen sah ich nach unten, sagte, wer ich bin, warum ich zu ihr gekommen sei, und dass ich ihr sehr dankbar bin für alles. Es ging sehr schnell, zu schnell, so wie ich es eigentlich nicht wollte. Ich schämte mich so sehr, dass ich nicht viel mehr zum Ausdruck bringen konnte.
Ich wollte nicht gehen, aber ich drehte mich um, weiß heute noch nicht, warum. Nach ein paar Schritten blieb ich stehen und sah mich um. Sie stand noch immer da, fast erstarrt, blickte etwas Gedanken versunken nach unten, so als wenn sie einen Moment nicht auf dieser Welt war. Es war so, als sei sie bei Gott, ganz kurz nur, aber ihm ganz nah. Und nicht nur ihm, auch mir. Da wusste ich, sie hat mich verstanden!
Das sind Momente, die ein Leben lang bleiben. Ich war erleichtert. Hatte ich doch endlich das getan, was mir auf der Seele brannte. Ich denke, erst solche Ereignisse wie eine TX und die Probleme, die damit einhergehen, geben Menschen die Kraft und den Mut, auch so zu handeln, wie sie es schon immer wollten, aber sich nie getrauten. Und warum? So grotesk es klingt: Weil es zutiefst menschlich ist! Es ist eben manchmal schwer, so zu handeln, wie man im Innersten ist. Das ist eine Erkenntnis, die ich durch die TX gewonnen habe.
An einem der unzähligen Tage im Krankenhaus...
...da wartete ich auf der Dialysestation auf meine Punktion, da die Ärzte eine Abstoßung vermuteten, die sich später zum Glück nicht bestätigte. Es war die Zeit, zu der die meisten Dialysepatienten zur Dialysebehandlung dorthin gebracht wurden. Die Betten wurden der Reihe nach geordnet aneinander gestellt, um dann die Menschen an "ihre" Maschine zu bringen. Dabei fiel mir auch ein äußerlich sichtbar körperlich behinderter Mann auf, der zusätzlich noch neben seiner Dialyse geistig behindert war. Er wirkte sehr traurig und begann auch zu weinen. Es war ein Freitag. Ich dachte erst, dass er unglücklich war, wieder an die Maschine zu müssen. Denn trotz seiner geistigen Behinderung begriff er, was mit ihm gemacht wurde. Und solche Phasen muss man ja im Krankenhaus besonders häufig miterleben. Ich selbst hatte ja zuvor CAPD gemacht, kannte also weder die HD noch die Atmosphäre auf einer Dialysestation.
Er saß auf seinem Bett und weinte immer mehr. Ich wollte schon zu ihm gehen, da kam ein Pfleger auf ihn zu und wollte ihn trösten, ihn fragen, was er habe, wie er ihm helfen könne. Der Mann meinte nur, er bekäme Sonntag doch keinen Besuch, obwohl er sich schon sehr lange darauf gefreut habe. Man wollte mit ihm eine Dampferfahrt machen, die er sich so sehr gewünscht habe. Der Pfleger umarmte ihn und sagte, vielleicht käme ja doch noch jemand und wenn nicht, dann mache er eben mit ihm einen Ausflug mit einem Dampfer auf der Spree. Schließlich soll es ja Sonntag schön werden. Aber jetzt müsse er erst mal wieder an die Maschine.
Auf mich wirkte das im ersten Moment sehr professionell, aber kühl und auch nicht fair. Denn ich war mir sicher, dass der Pfleger meinte, dem doch geistig behinderten Menschen etwas vormachen zu können, um ihn einfach nur abzulenken. Es gehört ja schließlich zum Job eines Pflegers, auch zu trösten und Hoffnung zu spenden.
Doch dann dachte ich, das kann man doch nicht machen. Dieser Mann freut sich doch so sehr auf die Dampferfahrt, und dies sollte aufrecht erhalten werden um jeden Preis. Der Pfleger würde doch seinen Sonntag nicht "opfern" für diesen Patienten. Ich war aber zu feige, auf den Pfleger zuzugehen und ihm meine Meinung zu sagen. Doch ich sollte eines Besseren belehrt werden! Am Montag musste ich nochmals dorthin, da die Punktion am Freitag nicht mehr durchgeführt werden konnte. Da sah ich freudestrahlend diesen Mann wieder auf der Dialysestation. Es herrschte eine ähnliche Atmosphäre, nur dieses Mal sprudelte es aus ihm heraus. Er erzählte ohne Unterlass von dem wunderschönen Sonntag auf dem Dampfer mit dem netten Pfleger. Ich war wie geplättet, hatte ich mir doch am Wochenende Vorwürfe gemacht, nicht meinen Anteil Hilfe geleistet zu haben und auch dem Pfleger ein paar Takte zu sagen. Der Mann tat mir doch so leid. Und nun das! Da hat doch dieser Pfleger tatsächlich Wort gehalten und diesem Mann ein Stück Normalität geschenkt, ein Stück Leben, wie es für andere selbstverständlich ist, ihm Glücksmomente gegeben, ihn von dem tristen Alltag der Dialyse ein wenig entfernt... Offenbar wusste er, dass es nicht um die Dampferfahrt allein geht. Mir standen die Tränen in den Augen vor Glück. Und wieder machte ich mir Vorwürfe, diesmal jedoch, weil ich einen Menschen vorschnell und falsch beurteilt habe...
Und was hat das alles mit meiner TX zu tun? Nun, für solche Dinge bin ich erst sensibilisiert worden, seitdem ich mich mit meiner Krankheit, der Dialyse, dem Tod und dem neuen Leben durch eine TX auseinandergesetzt habe. Da erst wurde mir bewusst, was es bedeutet, wenn chronisch kranke Menschen sich so sehr auf etwas freuen. Für sie ist es mehr als eine Dampferfahrt. Es ist etwas Besonderes, was ihr Leben lebenswert macht. Ob es ein Ausflug ist, ein Museumsbesuch, eine Wanderung - darauf kommt es nicht an! Entscheidend ist, dass jemand da ist, dem sie vertrauen, der auch weiß, dass solche vermeintlichen Kleinigkeiten des Alltags für sie eine immense Bedeutung haben, die man nur erkennen kann, wenn man sich in ihre Lage versetzt. Und darauf muss man sich verlassen können.
Mir wurde schlagartig klar, welches Glück ich habe, in einer intakten Familie zu leben, die immer für mich da war und es auch immer sein wird. Und wie dankbar ich für alles sein muss: Für die Organe, dem Spender und seiner Familie, den Ärzten und deren Kunst, meiner Familie und so vielen Dingen, die ich jetzt jeden Tag mit Hochachtung, Freude und Genuss LEBEN darf!
An diesem Montag sah ich, wie mir ein winziges Teilchen meiner Niere durch die Punktion entfernt wurde. Es war äußerlich nur ein kleines Stück Fleisch, kaum sichtbar. Doch ich wusste von da an, dass es viel viel mehr war. Es war ein großes Stück Freiheit, ein wiedergewonnenes Leben ohne Einschränkungen, das manche Menschen überhaupt nicht schätzen können. Ich aber weiß nun, dass ich jetzt jeden Tag, zu jeder Zeit eine Dampferfahrt machen kann, ins Kino gehen kann, verreisen kann, ohne Dialysezeiten einzuplanen, und noch viel mehr tun darf.
Von da an beschloss ich, alles zu tun, um meine Organe so lange wie möglich zu behalten. Denn ich wusste fortan, was es bedeutet, zu leben. Es ist ein Geschenk, das nicht unter dem Weihnachtsbaum liegt, das man auch nicht zum Geburtstag bekommt, das nicht materiell ist und schon gar nicht mit Geld zu bewerten ist. Aber mir ist auch immer bewusst, dass diese Art Leben, dieses großartige unermessliche Geschenk, begrenzt ist und ich irgendwann wieder zu denen gehöre, die dort auf der Liege warten, um an eine Maschine angeschlossen zu werden, die ihnen ein klein wenig von dem gibt, was ich jetzt im Großen erleben darf. Und dann hoffe ich, auf Schwestern und Pfleger zu treffen, die so sind, wie dieser wertvolle Mensch, der mir - unbewusst zwar - die Augen geöffnet hat, um zu erkennen, worauf es ankommt.
3. Mein Weg zu Gott
Ich war immer ein Mensch, der nicht an Gott geglaubt hat. Damit meine ich den Gott aus der Bibel, den Gott, der dort beschrieben ist und an den die Menschen glauben, wenn sie von Gott sprechen. Trotzdem hatte ich eines Tages das Bedürfnis, die Krankenhauskapelle aufzusuchen. Aber nicht, um zu beten, sondern um meine Form des Dankes an den Spender und seine Familie zum Ausdruck zu bringen. Mir fiel kein geeigneterer Ort ein, um mein Anliegen umzusetzen. Denn ich wollte ja auch allein sein in diesem Moment. Dabei hatte ich keine genauen Vorstellungen, wie ich das anstellen soll. Wie macht man das? Wie sagt man einem Toten "Danke!"?
Sonst gehe ich gewöhnlich nur Heiligabend in die Kirche, als Ritual sozusagen, aus Gewohnheit und wegen der Musik. Nur diesmal war es anders. Ich sah dort allerlei Kerzen brennen, große und kleine Kerzen, alle aber gleichmäßig dick und weiß. Sie waren im Kreis aufgestellt. Manche waren gerade erst angezündet worden, andere brannten nicht mehr, viele waren kurz davor, ihr Licht zu verlieren. Und doch gab es noch Stellen in diesem Kreis, auf denen noch keine Kerze stand. Irgendwie übte dieser Kreis auf mich eine Symbolkraft aus. Er war geschlossen, obwohl lükkenhaft befüllt. Irgendein Licht brannte fortwährend, auch wenn ein anderes gerade verlosch. Es war wie Geburt und Tod zusammen. Und alles gleichwertig nebeneinander oder soll ich besser sagen, in einem Kreis, wo es ja kein Ende und kein Anfang gibt. So, als sei es schon immer so gewesen.
Dann lag da ein Buch, in dem viele Menschen ihre Gedanken zu Papier gebracht hatten, Menschen, die an den christlichen Gott aus der Bibel glauben, aber auch welche, die andere Religionen verehren und solche, wie mich. Ich nahm mir die Zeit und las einige Einträge. Es waren frohe Berichte, aber auch traurige. Doch alle hatten eines gemeinsam: Das LEBEN!
Da war er wieder, dieser magische Begriff, den man so schwer fassen kann, weder in Worte noch in Gefühle. Und doch ist LEBEN immer da. Es hat so viele Gesichter, wie es Menschen gibt. Und war ich nicht auch deshalb hier? Hatte ich nicht erst vor kurzer Zeit erfahren, was das eigentlich ist, was es bedeutet? Ich meinte doch, bereits eine Antwort darauf gefunden zu haben. Und dann sah ich wieder diesen Kreis. Licht und Schatten, Beginn und Ende, alles das war darauf vereint. Und es hielt zusammen, hatte keinen Anfang und kein Ende.
Vielleicht sollte auch ich eine Kerze anzünden, um dem Moment meiner Freude und meiner unendlichen Dankbarkeit durch Licht Leben einzuhauchen? Dann würde vielleicht auch mein Spender davon erfahren, was ich empfinde.
Denn die Kerze wäre dann Bestandteil dieses Kreises. Und dort, wo es kein Ende und keinen Anfang gibt, muss er doch sein, mein Wohltäter, oder? Und wenn ich die Kerze anzünde, dann weiß auch er, dass ich lebe und zwar als Teil von ihm. Selbst wenn die Kerze verlischt, bleibt sie in diesem Kreis, bleibe auch ich bei ihm. Das schien mir geeignet.
Ich nahm eine Kerze und zündete sie an, befestigte sie auf einer leeren Stelle. Da plötzlich wurde mir klar, warum alle Kerzen gleich dick und weiß waren. Weil alle Menschen gleich sein sollen, weil das LEBEN ein Band ist zwischen Geburt und Tod, was alles zusammen hält. Und ist nicht dieses Band eigentlich das, was wir "Gott" nennen? Ich saß noch eine Weile da und schaute tief in meine Seele. "Machs gut" dachte ich, wir sehen uns eines Tages. Denn das Band bleibt für alle Ewigkeit.
Lübben, den 01.03.2008